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EIN BLATT IM WIND

 

Elena stand kurz vor einem Zusammenbruch. Hier, vor der ganzen Klasse. Während sie der 9b den Rücken zuwandte und beim Schreiben die Kreide über die Tafel quietschen ließ, stieg der Lärmpegel. Tische und Stühle wurden verschoben, Schulsachen klatschten auf den PVCBoden, ein Mädchen kreischte und etwas donnerte gegen ein Fenster. Elena reagierte nicht. Wie so oft in letzter Zeit. Das Unterrichten dieser schrecklichen Klasse hatte ihre Energien aufgezehrt. Mit Mühe unterdrückte sie das aufkommende Zittern. Sollte sie sich laut Gehör verschaffen? Das letzte Mal hatte es den bedauerlichen Rest ihres Respekts gekostet. Sie hatte nicht vor, noch zu tiefer zu sinken, selbst wenn sie bereits sowohl bei ihren Schülern als auch dem Lehrerkollegium durchgefallen war. Für Letzteres war Elenas Arbeitsweise ohnehin ein Beispiel für Unfähigkeit. Von Anfang an eckte sie mit einem von ihr erdachten pädagogischen Konzept bei ihren Kolleginnen und Kollegen an – als sie vorletztes Schuljahr hierher wechselte. Vor allem bei den Schülern. Die Chance, sich damit Respekt zu verschaffen, hatte sie vertan.

Belastend kam hinzu, dass Elena eher als Sexobjekt denn als Lehrerin behandelt wurde. Von Schülern und dem Kollegium! Elenas nahezu makelloses Aussehen sorgte bei Jungs, Männern und Lesben gleichermaßen für hormonelle Ausnahmezustände. Allein ihre ausgeprägte Sanduhrfigur wirkte wie ein Magnet. Ihr glatter, schwarzglänzender Pagenschnitt rahmte ihr puppengleiches Gesicht harmonisch ein. Aus den Blicken der Frauen und Mädchen sprach Neid; sie reagierten im besten Fall mit Ablehnung, im schlimmsten mit psychischen Gräueltaten.

Elena hatte nie gelernt, mit ihrer Schönheit umzugehen. Nach außen wirkte sie kühl und arrogant. Innerlich war sie äußerst zerbrechlich, unsicher und in sich gekehrt. In Situationen wie diesen bröckelte ihre Fassade. In Karlsruhe, wo Elena im Anschluss an ihr Studium an einer Realschule unterrichtet hatte, wurden ihre psychischen Probleme erstmals evident. Statt sich mit diesen auseinanderzusetzen, hatte sie nach Wernersweiler gewechselt. Und ihre Probleme mit ihr.

Ihre männlichen Kollegen hielten sie auf Distanz, um nicht aufgrund ihrer sexuellen Anziehung in pikante Gerüchte verwickelt zu werden. Und die spürbare Eifersucht ihrer Kolleginnen äußerte sich in Stutenbissigkeit. Zu lange hatte Elena ausgeblendet, wie der Neid, die Eifersüchteleien und das zickenhafte Gebaren sie von innen zu zersetzen drohten. Der Umgang damit war ihr fremd. In ihrem rumänischen Heimatdorf war sie von allen geliebt worden. Was war sie nur für ein zuckersüßes Mädchen. Ein quicklebendiger Sonnenschein. An der Albert-Ludwig-Universität in Freiburg hatte Elena zum ersten Mal Gegenwind gespürt. Dank des Halts, den ihr ihre Studienkollegin und beste Freundin Bianca gab, war sie damit leidlich zurechtgekommen. Allen Widrigkeiten zum Trotz hielt sie an einem Mantra fest, mit dem sie sich in schwierigen Situationen beruhigte:

Ich kann jederzeit aufhören. Ich kann jederzeit aufhören.

Allesandras durchdringendes Kreischen riss Elena aus ihren destruktiven Gedanken. Die Kreide in ihren schweißnassen Fingern wurde rutschig. Die bohrenden Blicke ihrer Schüler brannten ihr im Rücken, die auf eine Reaktion warteten. Elena verharrte in regungsloser Starre. Ihr war, als sei die Luft im Klassenzimmer zum Schneiden dick. Sie atmete mühsam durch.

Die Tür zum Raum wurde bemüht langsam von außen geöffnet und Kai schlich herein. Er kam von der Toilette zurück und lief so unauffällig wie möglich zu seinem Platz. Dennoch zog er - wie üblich – Häme der Anderen auf sich, die einstimmig seinen Namen verhöhnten. »Kaimauer, Kaimauer!«, riefen sie im Chor und höhnisches Gelächter echote von den kahlen Wänden. In Elena Ivanovas Deutschstunde verbrachte Kai gerne viel Zeit auf dem Klo. Während ihres Unterrichts war er dem meisten Mobbing ausgesetzt. Schwitzend und mit rotem Kopf setzte er sich an seinen Platz in der ersten Reihe, wo ihn zur Begrüßung Papierkügelchen trafen, die von ihm abprallten und sich um ihn herum auf dem Boden sammelten. Kai hatte das Pech, vorne zu sitzen – in der Reihe der Streber und Verlierer. Da er nicht zu den Strebern gehörte, nahm er die Rolle des Verlierers ein; was auch dem Umstand geschuldet war, dass er dieses Jahr die Neunte unfreiwillig wiederholte und in der neuen Klasse keinen Anschluss fand. Sie war ihm zu unreif. Er war der einzige Volljährige, besaß schon einen Führerschein und ihm war erlaubt, das Auto seiner Eltern zu nutzen. Andere Jungs mit solchen Vorzügen wären Klassenkönige. Doch der unter blühender Akne leidende Kai hatte sich diese Vorteile durch vorlautes und altkluges Auftreten rasch verspielt.

Er war vor einem Jahr vom Gymnasium an diese Realschule gewechselt und hatte in seiner vorigen Klasse als ein hemdsärmeliger Macher gegolten. Wie hatten dann alle gelacht, als klar war, dass er nicht versetzt werden würde! Das Großmaul war in Wirklichkeit ein Versager! Kai zog die Schultern ein, bearbeitete seinen Füller nervös mit den Händen und schaute verärgert zu Frau Ivanova, die zwar zwischenzeitlich ihren Arm gesenkt hatte, aber noch immer nichts unternahm. Für ihn war seine Deutschlehrerin dafür verantwortlich, dass es ihm in der Klasse so dreckig ging.

Elena betrachtete ihr Geschriebenes an der Tafel und erschrak. Mitten in einem erklärenden Satz über Grammatik hatte sie ihr Mantra gekritzelt. Gelächter hallte durch den Raum und schwoll in Elenas Ohren zu einem verzerrten Klangbrei an. Ihre Nase lief und sie kramte peinlich berührt in der Hosentasche ihrer Jeans nach einem Taschentuch, um Zeit zu gewinnen, aber auch, weil sie eine leichte Erkältung plagte. Sie ertastete nur ihren kleinen Talisman. Beim Zigarillos kaufen, hatte sich Elena letzten Samstag versehentlich ausgesperrt.

An jenem Tag hatte es Fäden geregnet und die Temperaturen an diesem Spätsommertag waren auf dreizehn Grad gefallen. Frierend hatte sie vor der Haustür gestanden und auf den Schlüsseldienst gewartet. Bei ihren Nachbarn hatte sie nicht geklingelt. Zu keinem von denen hatte sie einen guten Draht. Es war eher so, dass man sich im Haus wünschte, sie zöge wieder aus. Sie höre zu oft zu laut Musik, sortiere ihren Müll nicht und mache keine Kehrwoche. Eine Stunde später war Elena völlig durchnässt zurück in der Wohnung. Das Wochenende hatte sie teetrinkend, mit einer Heizdecke und ihrer Katze im Bett verbracht, obwohl sie einen Berg an Arbeit vor sich herschob.

Kevin durchbrach das Gelächter aus der hintersten Reihe. »Womit können Sie denn jederzeit aufhören?« Elena hatte ihr an die Tafel Geschriebenes schon wieder vergessen. Ehe sie begriff, antwortete Irina für sie: »Mit Kiffen!« Gelächter und Gejohle. Säure auf Elenas Seele! »Irgendwie muss sie uns ja ertragen«, sagte eine Andere. Elenas Kraft schwand rapide. Als wöge die Kreide schwer wie Blei, legte sie sie in das Ablagefach, tapste zum Lehrerpult und ließ sich auf den Stuhl plumpsen. Im Anschluss an die nächste Pause hatte sie nur noch die 8a zu unterrichten – die hatte mehr Mädchen. Dort wurde subtiler gemobbt. Das war das kleinere Übel.

Elena, dem Heulen nahe, brauchte dringend noch ein Taschentuch. Natürlich fand sie im Durcheinander ihrer Tasche nicht sofort eines und das war erst recht peinlich. »Heult die?«, sagte Irina laut zu ihrer Tischnachbarin. »Die Ivanova flennt«, sagte Miroslav. Elena, die endlich ein Taschentuch fand, schnäuzte sich möglichst unhörbar und stopfte es im Anschluss in ihre Hosentasche. Sie schluckte schwer, riss sich dann zusammen. Schließlich klatschte sie zweimal laut in die Hände und hoffte, Ruhe würde einkehren. Doch ihr Bemühen wirkte hilflos und verfehlte seine Wirkung. Sie stand hinter dem Pult auf, strich ihren Pulli glatt und hob ihren tränenverschleierten Blick. »Ihr dürft in die Pause«, sagte sie müde. Papierrascheln, Taschengewühle, Stühlescharren. »Raus hier, bevor es Hausis hagelt«, hörte sie Kevin sagen. Das Klassenzimmer leerte sich blitzschnell.

Nur Kai hatte es nicht eilig, packte seinen Rucksack in kalkuliert langsamen Bewegungen, um zwischendurch verstohlen zu seiner Deutschlehrerin zu schauen. Elena bemerkte es; blinzelte angestrengt ihre Tränen weg. Es hätte klärender Worte bedurft. Doch sie schluckte sie runter und sah weg. Kai zog den Reißverschluss des Rucksacks zu. Er hatte gehofft, dass sie etwas sagte. Dann hätte er seine Sicht der Dinge dargelegt und womöglich ehrliche Antworten erhalten. Die Lehrerin stand nervös auf. Bevor Kai sich erhob, betrachtete er Frau Ivanova von oben bis unten. Sie gefiel ihm immer noch. Er fand ihre langen Beine begehrenswert. Und oft stellte er sich vor, wie ihre zarten Hände seinen Schwanz umschlossen. Das erregte ihn! Er nahm Rucksack und Jacke und verließ das Klassenzimmer, ohne sich zu verabschieden oder sich nach ihr umzudrehen.

Elena setzte sich wieder, strich sich fahrig eine Strähne hinters Ohr und sah zum Fenster hinaus. Dieser lichtsatte Spätsommertag suggerierte ihr fälschlicherweise ein unbeschwertes Leben. Ihr blieben zehn Minuten. Zehn Minuten, um in eine andere Welt abzutauchen; in der sie eine Familie hatte, die zu Hause auf sie wartete, und sie keine Probleme mit ihren Mitmenschen hatte. Keine Fuchsrain-Realschule. Kein Kai. Elena benötigte dringend eine Dosis Nikotin, kramte fiebrig in ihrer Tasche nach den Filterzigarillos und steckte sich einen zwischen ihre Lippen. Als ihr klar wurde, dass sie im Begriff war, im Klassenzimmer zu rauchen, stopfte sie den Zigarillo zurück in die Schachtel und feuerte diese entnervt in die Tasche. Was hielt sie hier? Was erhoffte sie sich? Die Sonne brannte angenehm in ihrem Gesicht. Für einen Moment schloss sie die Augen. Sosehr sie sich mit diesen Fragen quälte, sie fand wie immer keine Antworten. Also öffnete sie ihre Augen wieder, stand auf und verließ mit Tasche und Klassenbuch den Raum.